« Die Vorsitzende des Front National leugnet Frankreichs Mitschuld an der Deportation von Juden im Zweiten Weltkrieg. Damit bringt sie sich vermutlich um das Präsidentenamt
Zwei Wochen vor dem ersten Wahlgang hat die Rechtspopulistin Marine Le Pen die Masken fallen lassen: „Frankreich ist nicht verantwortlich für das Vel d’Hiv“, sagte die Präsidentschaftskandidatin des Front National in einem Fernsehinterview. Mit der Abkürzung „Vel d’Hiv“ wird in Frankreich die Deportation der französischen Juden 1942 bezeichnet, die Razzia des Wintervelodroms: Mehr als 13.000 jüdische Mitbürger hatte die französische Polizei Mitte Juli 1942 festgenommen, über Tage in der Radsporthalle gefangen gehalten und dann zur Deportation den deutschen Besatzern übergeben.
Jahrzehntelang war dieses düstere Kapitel der französischen Geschichte tabu. Erst Staatspräsident Jacques Chirac hatte 1995 den Mut, die Mitschuld Frankreichs an der Deportation der französischen Juden anzuerkennen. Seither haben sich alle Staatspräsidenten dieser Lesart angeschlossen.
Le Pens Position ist 75 Jahre nach den Ereignissen erschütternd, aber für ihre Gegner und für alle, die die Europäische Union nicht zerstört sehen wollen, ist das eine gute Nachricht: Mit dieser Geschichtsklitterung wird Le Pen ihre Kernwählerschaft unmöglich erweitern können. Das müsste sie aber, wenn sie in der Stichwahl am 7. Mai siegen will. „Marine Le Pen schien vor wenigen Wochen ihren Platz in der Stichwahl sicher zu haben. Inzwischen ist nicht auszuschließen, dass sie sich nicht für die zweite Runde qualifiziert“, sagt Jérôme Fourquet, Direktor des Meinungsforschungsinstitut Ifop im Gespräch mit der „Welt“.
Le Pen sei zur Zeit in einer für sie schlechten Dynamik: „Ihre Affären sind eine Art Grundrauschen, das ihr letztlich schadet. Hinzu kommt ihr nicht besonders überzeugender Auftritt bei den Fernsehdebatten, die Ausschreitungen beim Wahlkampftreffen auf Korsika, ihre Äußerung über die Deportation der Juden. Gepaart mit dem überraschenden Erfolg des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon kann sie das zusammengenommen ihren Platz in der Stichwahl kosten.“
Die Sequenz in der fast einstündigen Fernseh- und Radiosendung dauerte nur wenige Sekunden, aber sie dürften genügen, um Le Pens Scheitern bei den Wahlen zu besiegeln. Denn grober Antisemitismus, wie ihn Parteigründer Jean-Marie Le Pen jahrzehntelang ausgestellt hat, ist in Frankreich nicht mehrheitsfähig. Als hätte Marine Le Pen das in einem kurzen Augenblick des Kontrollverlusts vergessen, hat sie mit zwei kurzen Sätzen ihre eigene, jahrelange Arbeit der „dédiabolisation“, der Entdiabolisierung des Front National zunichte gemacht und sich als die erwiesen, die sie im Innersten ist: als Tochter und ideologische Erbin des Mannes, der Auschwitz gern „als Detail der Geschichte“ bezeichnet hat und sich wiederholt vor Gericht als Holocaustleugner verantworten musste.
Seit seine Tochter Marine den Parteivorsitz 2012 übernommen hat, bemühte sie sich gezielt, die Partei vom Antisemitismus des Vaters zu befreien. Aus einem politischen Familienunternehmen des rechtsextremen Randes, sollte eine große, mehrheitsfähige Partei werden. Denn anders als er, der lustvolle Provokateur, wollte sie die Macht. Sie wollte sie so sehr, dass sie mit dem Vater brechen und ihn schließlich aus der Partei ausschließen musste. Jetzt hat Parteichefin Le Pen bewiesen, dass die fremdenfeindliche, im Kern antisemitische Ideologie des FN dieselbe geblieben ist. Sie hat sie nur besser zu verpacken gewusst.
Nachdem wichtige Punkte wie der Austritt aus der EU und die „sofortige Abschaffung von Schengen“ in der Fernsehsendung „Le Grand Jury“ besprochen waren, wendete sich der Moderator Punkt 97 von Le Pens insgesamt 144 Versprechungen zu, der „Verstärkung der Einheit der Nation durch die Promotion einer nationalen Erzählung und Verweigerung der Bußfertigkeit des Staates, die spaltet“, wie es im Wahlprogramm heißt.
„Hat Jacques Chirac mit seiner Rede zum Vel d’Hiv einen Fehler gemacht“, fragt der Moderator die Kandidatin? Daraufhin erklärt Le Pen Frankreichs Unschuld und schwärmt von einem Land, in dem man Kindern nicht mehr Selbstkritik einbläue, sondern Stolz auf die Nation: „Verantwortlich ist nur, wer damals an der Macht war. Nicht Frankreich!“
Le Pens Satz löste zum Teil auch zynische Reaktionen in den sozialen Netzwerken aus. „Papa, der Mann des Details, wird zufrieden sein“, schrieb die grüne Senatorin Esther Benbassa auf Twitter. Der Historiker und Holocaust-Spezialist Henry Rousso ergänzte spöttisch: „Ist Frankreich verantwortlich für Marine Le Pen?“ […] »
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